Zuhause in der Beschleunigung

Kabine Eins

Welche Bedeutung hat der Begriff “Heimat” im Kontext globaler Beschleunigung? Kann und muss Heimat akzelerationistisch neu gedacht werden? Und kann der kapitalistische Imperativ konstanter Mobilität auch zur linkspolitischen Chance werden? Bei Kabine Eins gibt es zeitgenössische Philosophie, klassische Oper – und vor allem jede Menge Fragen.

Eine gute Idee lässt sich in einem Satz ausdrücken, lautet ein verbreitetes Startup-Credo. Bei Kabine Eins, das wurde uns spätestens beim Verfassen unserer Pressemitteilungen klar, müsste das Ganze ein ziemlicher Bandwurmsatz werden. Und auch auf einen Bierdeckel passt das Konzept der am Donnerstag um viertel nach sieben im Graf von Soden-Forum stattfindenden Veranstaltung nur, wenn man wirklich ganz winzig zeichnet. Die Philosophie- und Musikveranstaltung wurde kreuz und quer und von hinten aufgerollt organisiert, wirft mehr Fragen auf als sie beantwortet – und wird trotz des  “ungenausten Antrags dieses Semesters” großzügig von der Zeppelin Universitätsgesellschaft unterstützt.

Im Endeffekt geht es bei dem Projekt auch genau darum, Fragen zu stellen. Zunächst musikalisch: wir haben Julia Moya, eine begnadete spanische Sopranistin, und Max Bogner alias Margaret Unknown, einen Wiener Experimental-Freejazz-Musiker, nach Friedrichshafen eingeladen. Drei Tage lang verbringen die beiden im Rahmen einer Mini-Residency in meinem WG-Zimmer und entwickeln dabei ein Stück, in dem sie die Bedeutung von Heimat erforschen und hinterfragen. Als Musiker sind die beiden dauermobil und pflegen ähnlich wie einige Entreprenneure und Künstler als moderne Normaden einen Lebensstil, der in den kommenden Jahrzehnten immer mehr Verbreitung finden wird. Herstellungsprozesse werden maschinalisiert, Unternehmen agieren zunehmend global und wenn man Zukunftseuphorikern Glauben schenken darf, steuern wir ohnehin auf eine Leisure Economy zu, in der ein bedingungsloses Grundeinkommen das Verfolgen persönlicher Projekte ermöglicht wird und wir unsere Arbeit bequem vom Laptop aus verrichten können. Was bedeutet das alles für unsere Vorstellung von Zuhause? Werden kommende Generationen zu Weltenbürgern werden? Und wie geht man mit den Ressentiments um, die sich in Form von rechtsnationalen Bewegungen schon heute gegen eine global-kosmopolitische Weltordnung richten? Und wie muss der Begriff Heimat in all seinen politischen und gesellschaftlichen Dimensionen in Zukunft neu gedacht werden?

Julias und Max Performance dient dem Panel aus Armen Avanessian, Ramona Kordesch, Alexander Ruser und Jan Söffner als Diskussionsimpuls. Wie auch Avanessian, der seine philosophische Praxis durch die Teilnahme an Biennalen und die Produktion von visuell ansprechenden Filmen in der Kunstwelt ansiedelt, glauben wir daran, dass Philosophie am besten als Synergie aus Wissenschaft und Kunst funktioniert. Das flexible Kunstfeld erlaubt es, am Puls der Zeit zu bleiben und neue Erkenntnismethoden zu erproben – und genau das möchten wir mit Kabine Eins tun. Avanessian ist selbst ebenfalls dauermobil, eigentlich immer und überall per E-Mail erreichbar und schrieb sein letztes Buch “Miamification” zwischen Urlaubsflieger und South Beach. Darüber, dass hinter dieser konstanten Mobilität und dem Aufgeben einer festen Heimat auch ein kapitalistischer Imperativ steckt, sprach der bereits im Interview mit Futur drei. Doch anders als andere zeitgenössische Philosophen wie Byung-Chul-Han, der apokalyptisch vor unserer zeitgenössichen Mobilität und Vernetzung warnt, denkt Armen darüber nach, wie sich dieser Imperativ ins Positive umwandeln lässt. In dieser Hinsicht steht er den Akzelerationisten nahe, denen er in Deutschland durch die Veröffentlichung eines Sammelbandes im Merve Verlag zu breiter Bekanntheit verhalf: Auch sie denken angesichts eines kapitalistischen Systems, das alle Lebensbereiche durzieht und das in seiner Allumfassung nicht mehr aufzuhalten zu sein scheint darüber nach, wie man sich dessen Dynamiken für linkspolitische Zwecke zunutze machen und somit Autonomie zurückgewinnen kann. Gerade aufgrund seiner poetischen Zukunftsgewandtheit sind wir gespannt, welche Gedanken er zum Heimatbegriff in die Diskussion mitbringen wird.

Wenn die Köpfe dann so richtig rauchen, gibt es draußen Erfrischungen in Form von Sekt, Wein und Bier. Und anschließend gibt es noch eine ganz besondere Premiere: mit einer Reihe von klassischen Opernstücken zeigt Julia begleitet von Billy Contreras und Felicitas Amann ihr können und beschert der Uni damit ihr erstes klassisches Opernkonzert. Zum Schluss dreht Max Bogner noch einmal richtig auf und beendet den Abend mit einer improvisierten Liveperformance. Zugegeben: das alles passt in keinen Elevator Pitch. Aber vielleicht wird es gerade deshalb eine wunderbare Veranstaltung.