Wenn die Wahrheit nicht genügt

Über Unwahrheit in der Wirtschaft

In den letzten Jahren häufen sich die Skandale in der Wirtschaft, von geschönten Abgaswerten bei VW über den P & R Container-Anlage-Schwindel und dubiose Praktiken im Finanzsektor bis hin zur aufgemotzten Wirecard-Bilanz. Daneben unzählige Steuerhinterziehungsfälle, aktuell die „Pandora Papers“.    
In allen Fällen lautet der Vorwurf: Unehrlichkeit. Dabei ist Ehrlichkeit einer der Werte, den sich die Menschen gerne auf die Fahne schreiben. Warum wird in der Wirtschaft trotzdem so oft unehrlich gehandelt? Warum verhalten sich Menschen im Privaten sehr ehrlich und im Namen des Unternehmens nicht? Ich möchte hier nicht nach den kleinen Alltagslügen fragen, die wir alle kennen. Ich möchte den Fokus stattdessen auf Systeme richten, die unehrliches Verhalten fördern. Auf den Umgang unserer Psyche mit Lügen und darauf, wie wir durch das Verhalten unserer Mitmenschen beeinflusst werden. Gerade in Positionen mit großer Verantwortung wäre Ehrlichkeit angebracht. Trotzdem kommt es immer wieder zu ausgewachsenen Betrugsfällen, die mit einer kleinen Unehrlichkeit begannen.    

„Wer nicht lügen kann, weiß nicht, was Wahrheit ist.“ (F. Nietzsche)    

Der Begriff „Unwahrheit“ ist sehr weit gefasst. Er erstreckt sich von der nicht ausgesprochenen Wahrheit über die Notlüge, bis hin zur vorsätzlichen Schädigung von Mitmenschen oder der eigenen Bereicherung. Die Psychologie teilt ein in weiße „Prosocial Lies“ und schwarze „Self-Serving-Lies“. Auch Pädagogik, Philosophie und Religion sind sich einig: Es gibt einerseits gesellschaftlich vertretbare Lügen, die unser Zusammenleben ermöglichen und andererseits Lügen, die nur der Selbstbereicherung dienen und Mitmenschen schädigen.          
Die weißen Lügen sind die Ausnahmen von der Wahrheit, ohne die wir nicht können. Wir kennen sie alle, sprechen sie vermutlich täglich aus und rechtfertigen sie problemlose vor uns selbst mit einem „Ich wollte ihn nicht unnötig verletzen.“, und „Es ist ja legal.“ Rechtfertigung ist dabei ein psychologischer Mechanismus, der uns hilft, mit der Unwahrheit umzugehen. Das funktioniert sowohl bei weißen als auch bei schwarzen Lügen. Durch die Rechtfertigung bleibt unser positives Selbstbild erhalten. Das menschliche Gehirn scheut nämlich die Inkongruenz von Selbstbild und eigenem Verhalten – ein Sprung im positiven Selbstbild – denn die psychologischen Kosten in Form des schlechten Gewissens wiegen schwer und sind anstrengend.          

Die Presse versucht Skandalfälle aufzuarbeiten, indem die Vorgänge rekonstruiert und die Motive der Verantwortlichen, beziehungsweise der verantwortlich gemachten Personen, nachvollzogen werden. Es erscheinen Podcasts, Bücher, Reportagen, die Investigativjournalisten leisten ganze Arbeit und der Betrugsfall wird zur Story. Nachdem wir Konsumenten all diese Folgen gehört und Artikel gelesen haben, meinen wir zu wissen, wie es so weit kommen konnte. Wann die Protagonisten den Weg der Wahrheit verlassen und wann sie eine falsche Entscheidung getroffen haben. Ein Spiel, in dem zu hoch gepokert wurde, ein Fehler, den man sich nicht eingestehen wollte, oder doch nur die bedenkenlose Gier nach Macht oder Reichtum? 
Bei all diesen Erkenntnissen bleibt ein blinder Fleck im Bild, das „Warum?“ Wie genau konnten die Protagonisten das unehrliche Verhalten vor sich selbst rechtfertigen? Wie bewusst wurde eine kleine Schummelei zum großen Betrug? Warum stiegen sie nicht früher aus, sondern warteten ohnmächtig, bis die Wahrheit ans Licht kam? 

Warum wir schummeln.

Unehrliches oder ehrliches Verhalten wird nicht nur von isolierten Entscheidungen oder persönlichen Erlebnissen, sondern auch von der Welt und den Systemen, in denen wir uns bewegen, beeinflusst. Warum und wann besonders viel geschummelt wird und welche Systeme unehrliches Verhalten fördern, untersucht ein interdisziplinäres Forschungsfeld zwischen Psychologie und Wirtschaft. 
Eine besonders relevante Erkenntnis aus der Forschung ist, dass monetäre Anreize die intrinsische Motivation korrumpieren. Die psychologischen Kosten sind für uns Menschen entscheidungsrelevant und Geld kann somit das Gewissen abschalten. Man hat ja schon „bezahlt“. Eine weitere Erkenntnis ist, dass sich Schummelei besonders gut vor sich selbst rechtfertigen lässt, um den eigenen Status zu erhalten. Wie ehrlich oder unehrlich wir uns verhalten, wird zudem von unserem sozialen Umfeld geprägt. Wird unter Freunden, Familien, Kollegen und anderen uns nahestehenden Personen viel geschummelt, haben wir das Gefühl, Unehrlichkeit sei in Ordnung. Das zeigt sich beispielsweise auch im Radsport, wo Doping bekanntermaßen gang und gäbe ist. Überspitzt formuliert gewinnt nicht jener, der am meisten trainiert hat, sondern derjenige, der nicht erwischt wird.         
Auch das Gefühl, von einem unfairen oder unsicheren System, beispielsweise unsicheren Bonuszahlungen, abhängig zu sein, lässt uns schummeln, um unsere Chance auf den Gewinn zu vergrößern. Ist die Chance, dass eine Unehrlichkeit entdeckt wird groß, halten wir uns eher an die Wahrheit.   
Und zu guter Letzt, auch unverhältnismäßig hohe Boni oder Belohnungen führen zu unehrlichem Verhalten – mit dem Geld steigt der Anreiz und mit dem Anreiz der Druck. Wir sind bereit mehr zu investieren, um die beträchtliche Geldsumme zu holen.                   

Ein Betrug basiert aber nicht nur auf der Entscheidung eines Einzelnen zu unehrlichem Verhalten. Das wäre zu einfach. Das Verhalten jedes Menschen ist auch ein Spielball seiner Umwelt. Der Einzelne trifft die Entscheidung, das System bietet die Rechtfertigung, das Selbstbild bleibt erhalten und das Gewissen rein. Warum Jan Marsalek und Markus Braun im Namen von Wirecard krude Geschäfte tätigten, warum bei P&R mit Containern gehandelt wurde, die es nicht gab, warum VW seine Abgaswerte schönte und warum Steuern hinterzogen werden, können nur die Angeprangerten selbst beantworten. Doch die wissenschaftlichen Erkenntnisse führen zur folgenden Interpretation. 
Erstens waren Überwachungsmechanismen oder auch das Unternehmensgewissen, in Form der Corporate Responsibility oder Compliance, augenscheinlich nicht ernst genug.    
Zweitens wogen Gedanken an die Folgen für Anleger, Mitarbeiter und das ganze Unternehmen und ein daraus resultierendes schlechtes Gewissen weniger schwer als die Chance auf einen großen Gewinn.     
Und drittens drehten sich alle Fälle um viel Geld und die Protagonisten waren immer großem Druck und/oder großer Verantwortung ausgesetzt.       
Vielleicht handelte es sich gar um so viel Geld, dass ihr Gewissen darunter begraben wurde. Vielleicht waren Druck, Verantwortung oder unverhältnismäßige Belohnungssummen so groß, dass es unmöglich erschien, diesen auf ehrliche Art gerecht zu werden. Vielleicht sind die Fake-it-till-you-make-it-Attitude und das Wissen um gängige Geschäftspraktiken in der Grau- bis Betrugszone – das machen ja alle so – in der Wirtschaft ein wenig zu weit verbreitet. Vielleicht haben wir, beispielsweise im Fall von Steuerhinterziehung, das Gefühl einem unfairen staatlichen System ausgesetzt zu sein und jeden möglichen Vorteil erkämpfen zu müssen.     
Es scheint, als wäre die Wahrheit oft nicht gut genug.     

Ein Appell für die Ehrlichkeit

Auch wenn dies kein universelles Problem ist, wäre es durchaus sinnvoll bestehende Strukturen, wie Belohnungssysteme, Leistungsanreize und die Verteilung von Verantwortung in Unternehmen, zu hinterfragen und umzudenken, anstatt weiter stumpf von einem Konsequenzialismus getriebenen Homo Oeconomicus auszugehen, welcher nur auf seinen eigenen Nutzen bedacht ist. Zudem sollte man sich immer wieder ins Gedächtnis rufen, dass – gerade in einem Unternehmen – eine Handlung selten isoliert bleibt, sondern sich auf Kollegen, auf das Unternehmen und auf alle Stakeholder und deren Privatleben auswirken kann. Unehrliches Verhalten etabliert sich rasend schnell. Am besten man fängt gar nicht erst damit an. Oder geht zumindest gegen bestehende und geschehene Schummeleien mit offener Kommunikation vor, um sie zukünftig zu unterbinden.

Der Autor und Jurist Ferdinand von Schirach fordert in Jeder Mensch, einem Vorschlag für eine Formulierung Europäischer Grundrechte, in Artikel 4 das Recht darauf, „[…] dass Äußerungen von Amtsträgern der Wahrheit entsprechen.“ Eine solche Vereinbarung klar, deutlich und offiziell herauszustellen wäre sicherlich auch in der Wirtschaft, in Unternehmen und sonstigen Organisationen, angebracht. Menschen verhalten sich in einer Situation ehrlicher, wenn ihnen der Wert Ehrlichkeit zuvor ins Gedächtnis gerufen wurde.
In der Praxis wird meist stillschweigend davon ausgegangen, dass man ehrlich handelt und sich an Regeln und Gesetze hält – so haben wir das ja von klein auf gelernt.     
Aber das Verhältnis zur Wahrheit ist dynamisch. Vielleicht braucht es zu diesem Wert öfter klare Worte. 

  • Ariely, D.; Gneezy, U.; Loewenstein, G.; Mazar, N. (2009). Large Stakes and Big Mistakes. Review of Economic Studies, 76, S. 451-469.       
  • Edelman, B., & Larkin, I. (2014). Social comparisons and deception across workplace hierarchies: Field and experimental evidence. Organization Science, 26(1), 78-98.   
  • Gill, D., Prowse, V., & Vlassopoulos, M. (2013). Cheating in the workplace: An experimental study of the impact of bonuses and productivity. Journal of Economic Behavior and Organization, 96, 120-134.
  • Gino, F., Ayal, S., & Ariely, D. (2012). Contagion and differentiation in unethical behavior. Psychological Science, 20(3), 393-398.        
  • Gneezy U.; Rustichini A. (2000) A Fine is a Price. Journal of Legal Studies. 29, S. 1-17.         
  • Nietzsche, F. (2015) Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne. Stuttgart: Reclam. 
  • Schirach von, F. (2021) Jeder Mensch. München: Luchterhand.        
  • Titmuss, Richard M. (1997) The Gift Relationship. New York: The New Press.