Von Essstörungen und dem Umgang mit ihnen.

TRIGGERWARNUNG
In diesem Artikel geht es um Essstörungen. Wenn du dich selbst von dem Thema betroffen fühlst, kann es sein, dass dich unser Gespräch triggert. Wir würden dich daher bitten, bewusst und eigenverantwortlich mit dem nachfolgenden Text umzugehen. 

Hallo, liebe:r Leser:in. Schön, dass du hier bist. Wir haben während des Semesters beschlossen, einen Artikel für unsere Mental-Health-Reihe, zum Thema Essstörung zu schreiben. Wir waren bzw. sind alle Drei selbst betroffen (gewesen) und finden, dass in unserer Gesellschaft noch offener mit Essstörungen aller Art umgegangen werden muss. “Aller Art” ist genau deshalb wichtig zu betonen, weil die mediale Darstellung von Essstörungen oftmals noch immer stigmatisierend, in Filmen zum Teil sogar romantisierend, erfolgt.   
Wir alle haben die Erfahrung gemacht, dass Reden, sich anvertrauen, oder auch von Menschen mit einer Essstörung zu hören, immer hilft. Deshalb haben wir uns zusammengesetzt und ungeschönt über unsere Erfahrungen, Gedanken und Gefühle gesprochen. Für die Eine war das Alltag, für die Andere ganz neu. Bei den Erzählungen handelt es sich um die subjektive Wahrnehmung jeder Einzelnen, die Erfahrungen sprechen nicht für alle Betroffenen. Da wir selbst alle Frauen sind, liegt der Fokus auf der weiblichen Perspektive. Männer können jedoch genau so an einem gestörten Essverhalten leiden wie Frauen.
Gespräche über Essstörung im Allgemeinen zu normalisieren und einen wertfreien Raum zu schaffen ist wichtig. Denn das Schlimmste an einer Essstörung ist, mit den Gedanken und Ängsten isoliert zu sein. Wir möchten euch näherbringen, was im Kopf und im Herzen einer Person mit Essstörung vor sich gehen kann und welche Formen Essstörungen annehmen können.  

Wenn ihr euch betroffen fühlt, jemand aus eurem Umfeld es ist, oder ihr einfach so mehr zum Thema wissen möchtet, gibt es auch eine tolle Podcast-Folge von Welle20 auf Spotify.

Zu Dritt sitzen wir also an einem Donnerstagabend im gemütlichen futurdrei Hauptquartier im Dachgeschoss des SMH. Wir haben vor einigen Wochen schon einmal gesprochen, kennen uns aber ansonsten eher peripher. Das Thema liegt uns sehr am Herzen. Eine von uns legt ihr Handy in die Mitte des Tisches und drückt auf den roten Button, um die Aufnahme zu starten. 

Hinweis: Die drei Sprecherinnen sind jeweils unterschiedlich markiert (normal, fett und kursiv), um es euch Leser:innen zu ermöglichen, einen Sprecherinnenwechsel zu erkennen.  

Was denkst du, wenn du isst? 

Inzwischen frage ich mich nur noch, ob es mir schmeckt. In der Retrospektive mache ich mir zu häufig Gedanken darüber, was ich esse, wann ich esse und wie viel ich esse. Eigentlich würde ich gar nicht so viel darüber nachdenken, weil das Thema Nahrungsaufnahme an sich schon recht langweilig ist.  

Als allererstes denke ich auch darüber nach, ob es mir jetzt gerade schmeckt oder nicht. Natürlich denke ich auch immer darüber nach, ob es gesund ist oder nicht. Und wenn ich diese beiden Fragen mit ja oder nein beantwortet habe, entscheide ich, ob es sich jetzt gerade lohnt, das zu essen. Ich präge mir das was ich esse auch genau ein, weil ich im späteren Verlauf des Tages oder abends nochmal daran zurück-denken werde, wenn ich Revue passieren lasse, was ich heute alles gegessen habe. 

Bei mir ist es eine Mischung aus dem, was ihr gesagt habt. Ich stelle mir auch immer noch die Frage: Habe ich gerade wirklich Hunger? Früher hat eine Stimme in mir ohne Magenknurren gesagt: Du hast es dir noch nicht verdient.  

Wie würdest du deine Essstörung beschreiben? 

In meinen Augen gab es für meine Krankheit keine Diagnose, aber mir war klar, dass ich ein gestörtes Essverhalten habe. Vor ein paar Tagen habe ich auf Instagram einen Post über ein Krankheitsbild mit Symptomen gefunden, in dem ich mich sehr wiedergefunden habe. Es heißt Orthorexie. Das bedeutet, dass man Lebensmittel sehr streng in „gesund“ und „nicht gesund“ kategorisiert. Da gibt es auch keine Graustufen. Ein Nutellabrot ist auf jeden Fall verboten.  
Es hat relativ harmlos angefangen. Als ich mich zum ersten Mal im Gym angemeldet habe, hat so ein Fitness-Typ meinen Grundumsatz berechnet. 

((Wir lachen, denn wir wissen, was gleich kommt.))  

Er hat mir diese Zahl einfach so auf den Tisch geknallt. Und plötzlich war diese Zahl in meinem Leben. 1500 Kalorien. Das ist dein Grundumsatz. 1500 geteilt durch drei, macht 500 Kalorien pro Mahlzeit. In der Phase als es schlimmer war, habe ich alles was ich gegessen hab nachgeschlagen. Mittlerweile kann ich es im Kopf überschlagen. Es ist so ein Mindfuck, die ganze Zeit drüber nachzudenken.  

Wahnsinn. Deine Erzählung versetz mich automatisch in das Gedankenkarussell von früher. Zu deiner Frage: Mittlerweile empfinde ich mein Essverhalten wieder als gesund. Es gab aber mal eine Zeit, in der das nicht so war. Darunter leidet noch immer die Wahrnehmung meines Körpers. Zu einer gesunden Wahrnehmung des Körpers gehört für mich so etwas wie die Haut zu spüren, dankbar zu sein für seine Hände, für seine Beine, für seinen Bauch. Die guten Eigenschaften des Körpers zu sehen und Eins zu sein mit dem Körper. Ich glaube dadurch, dass ich meinen Körper in einer wichtigen Entwicklungsphase abgestoßen habe, haben sich mein Körper und „ich“ unabhängig voneinander weiterentwickelt. Es klingt komisch, aber für mich sind das zwei verschiedene Dinge und ich würde mir wünschen, dass es eines Tages wieder Eins wird. 

Ich kenne das auch, ich habe sehr oft über meinen Körper geredet, als wäre er nicht ich. Als das mit der Essstörung anfing, wurde mein „ich“ zerrissen. Mein Geist hat angefangen, meinen Körper zu bekämpfen. Er war nur die Hülle, in der ich herumgelaufen bin, die manchmal die Kontrolle übernommen und Dinge, wie Essanfälle und Übergeben getan hat, die „ich“ eigentlich gar nicht wollte.  

Was waren eurer Meinung nach Ursachen für die Essstörung?

Bei mir war der Auslöser damals die Beziehung, in der ich mich befunden habe. Zum ersten Mal verliebt zu sein, dann auch noch in eine Person, die gar nicht gut zu mir war, gab mir ein Gefühl von Kontrollverlust, dass ich aus dem geborgenen Umfeld, aus dem ich kam, gar nicht kannte. Ich war total überfordert und habe irgendwie nach Halt und Bestätigung gesucht. Die Bestätigung, die durch die Person fehlte, von der ich sie so gerne wollte, habe ich dann im Hungern gefunden. Das mag für andere komisch klingen, aber das Hungern gab mir ein Gefühl von Sicherheit. Der Satz: “Ich bin immer noch dünner.”, der im Vergleich mit anderen fiel, gab mir Sicherheit. So surreal das heute für mich klingt. Das dünn sein war im Grunde alles, worauf ich gesetzt habe. Ich fand mich zu dieser Zeit nicht besonders liebenswert, aber ich war dünn. 

Bei mir war das ein bisschen anders. Ich wollte schon immer alles sein. Ich wollte immer alles richtig machen, perfekt sein und dünn sein gehörte da auf jeden Fall dazu, weil dünn eben das Schönheitsideal ist.   
Die zweite Sache war, dass Jungs zu gefallen zu der Zeit auch dazugehört hat. Das klingt jetzt blöd, aber ich habe immer positive Rückmeldung, vor allem von Jungs bekommen, wenn ich abgenommen habe, wenn ich dünner war. Ganz ehrlich, so als junges Mädchen bekommt man zu selten gesagt, dass man gut ist, wie man ist. Dass man witzig ist und eine tolle Persönlichkeit hat. Man bekommt wesentlich öfter gesagt: „Oh, du siehst aber heute schön aus und tolle Haare!“ Dadurch fängt man an, sich selbst sehr stark über sein Äußeres zu definieren.  

Bei mir ist das ganze Thema Essstörung ist in mein Leben getreten, als meine kleine Schwester eine Magersucht entwickelt hat. Niemand aus meiner Familie wollte das sehen, aber sie ist unfassbar dünn geworden, hat immer nur Tomatensuppe gegessen und Grünen Tee getrunken. Das hat mich ziemlich aufgewühlt und wütend gemacht. Gleichzeitig habe ich angefangen zu studieren, war im Uni-Leben erstmal lost und wusste nicht, wer und wie genau ich selbst eigentlich bin. Ich hab mich auch auf eine für mich ziemlich toxische lockere Beziehung eingelassen. Es war emotional ein krasses Auf und Ab und unfassbar anstrengend, aber das wollte ich mir lange nicht eingestehen. Ich wollte mich nicht aufdrängen, nicht festlegen und habe mich selbst nicht besonders ernst genommen. Damals habe ich mir auch starke Gefühle, vor allem sowas wie Wut, nicht erlaubt, aus Angst ein schlechter Mensch zu sein. Das Essen und Übergeben, also die Bulimie, wurde zu einem Ventil und zu einem greifbaren Problem, das ich angehen konnte. Parallel zu den Essanfällen habe ich angefangen, mein Essverhalten in der restlichen Zeit extrem zu kontrollieren, um den Kontrollverlust in den anderen Lebensbereichen zu kompensieren. Der Schritt zur vermeintlichen Perfektion meines Körpers schien mir so klein und es war diese eine Sache, in der ich scheinbar so leicht eine der Besten sein konnte.   
Meine Therapeutin hat zu dem Thema mal einen Satz gesagt, der mich sehr berührt hat und an den ich oft denke: “Geh du vor, sagte die Seele zum Körper, auf mich hört sie nicht.” Das finde ich sehr wichtig, daran zu erinnern, dass hinter einer Essstörung in den allermeisten Fällen ein seelisches oder emotionales Problem steckt.  

Ist dir selbst aufgefallen, dass dein Essverhalten gestört war? 

Währenddessen nicht. Vieles habe ich einfach unter dem Aspekt der gesunden Ernährung gelabelt. Ich habe mich immer im Recht gefühlt für meine Essensrestriktionen. Ich erinnere mich an eine Situation, als ich mit meiner Familie in einem Tapas-Laden war und ausgetickt bin. “Warum sind wir hier?! Ihr wisst genau, dass ich hier nichts essen kann!”, habe ich meinen Papa angemault, in der festen Überzeugung, im Recht zu sein. Ich war in dieser Zeit so gefangen in meinem Korsett an Regeln, dass ich das wirklich ernst meinte. Ich hätte dort nicht essen können. Wie ist es euch da ergangen?  

Ich war eher ambivalent. Ich konnte mich im einen Moment sehr gut belügen, und es mir im nächsten eingestehen, dass ich ein Problem habe. „Das war jetzt das letzte Mal übergeben.“, konnte ich mir auch dreimal die Woche sagen.  

Man wird ja oftmals komplementiert für den Körper, der ja so gesund ist. Ich habe am meisten Komplimente für meinen Lifestyle und mein gesundes ich bekommen, als ich am ungesündesten im Kopf war. 

In welchem Moment hast du gemerkt, dass du etwas ändern möchtest und wie hast du das gemacht? 

Ich habe gemerkt, dass ich an nichts anderes mehr denken konnte. Ich habe in meinem Kopf alle Sachen, die ich gegessen habe, zusammengezählt und in drei Mahlzeiten á 500 Kalorien unterteilt. Meine beste Freundin hat mir das auch irgendwann gespiegelt. Sie hat mich im Urlaub zur Seite genommen und gesagt: „Hör auf! Das belastet unsere Freundschaft und du bist nicht mehr du selbst.“ Da habe ich erstmal richtig krass geweint, weil ich gar nicht damit umgehen konnte. Aber das war letztendlich, glaube ich zumindest, der Switch-Moment für mich.  

Bei mir gab es auch einen Schlüsselmoment, als ich nach dem Abi mit meiner besten Freundin im Surfcamp war. Wir haben den ganzen Tag Sport gemacht und dann es gab morgens, mittags und abends an einer gemeinsamen Tafel Essen. Total schön an sich, aber für jemanden mit einem gestörten Essverhalten, die immerzu sagt, sie habe schon gegessen, war das natürlich der absolute Horror, weil ich keine Ausreden mehr finden konnte, was ich wann, wo, wie angeblich schon gegessen habe. Da ich aber auf der anderen Seite auch total hungrig war vom ganzen Sport machen und nicht das uncoole Diät-Girl sein wollte, dass abends nicht mitisst, habe ich das getan, was ich mir Wochen zuvor nicht hätte vorstellen können: Ich habe mich an den Tisch gesetzt und mit den anderen gegessen. Und auf einmal habe ich mich wieder in das kleine Mädchen von früher verwandelt, das Spaß daran hat, an einer großen Tafel zu sitzen und mit anderen Pasta zu essen. Da war ich zwar noch weit entfernt von einem gesunden Verhältnis zu Essen, aber es war ein erster Schritt.  

Ich habe nach einem halben Jahr beschlossen eine Therapie zu machen, weil mir ziemlich klar war, dass es nicht gut ist, sich nach dem Essen zu übergeben. 4 Jahre Therapie haben mir geholfen, meine Bulimie als weniger furchterregend, sondern als Verhaltensweise anzusehen, die bei mir durch emotionales Chaos ausgelöst wird, um den Gefühlsstress kurzfristig aufzulösen. Irgendwann habe ich auch gemerkt, dass mein Körper keine Energie mehr hatte. Ich bin gerne unterwegs und mache gerne Sport. Das Gefühl, beim Sport schwach und nicht bei der Sache zu sein, wenn ich Freunde treffe, weil ich nur an Essen denken kann hat mir letztendlich gezeigt, dass ich das so nicht mehr wollte. Ich will lebendig sein. Ich will Energie haben und  45 Minuten rennen können, ohne dass ich zusammenklappe. Ich will das gemeinsame Essen mit Freunden genießen können, ohne dabei Angst vor der Pizza zu haben.  

Warum ist Essen für manche Menschen emotional so aufgeladen?  

Ich denke es liegt daran, dass Essen für viele phasenweise zum Feind geworden ist. Da raus zu kommen ist schwer. Die meisten Mädchen entwickeln nicht ohne Grund in der Pubertät eine Essstörung. Man ist mit sich selbst und der Welt überfordert, interessiert sich das erste Mal für Jungs und hinzu kommt auch noch, dass der Körper sich verändert. Um diesen ganzen Veränderungen entgegenzuwirken, die man selbst nicht in der Hand hat, suchen sich viele etwas in ihrem Leben, das sie kontrollieren können. Ziel dabei können die verschiedensten Dinge sein: Bei den einen ist es der Wunsch, möglichst lange Kind zu bleiben und deshalb an dem Kinderkörper weiter festhalten zu wollen, bei anderen ist es ein Schrei nach Aufmerksamkeit, bei wieder Anderen ist die Motivation, Jungs zu gefallen. Die Gründe, sich dem Essen abzuwenden, sind vielfältig. Je öfter ich mit Freundinnen und Frauen im Allgemeinen über dieses Thema spreche, desto mehr merke ich, dass es nahezu keine Ausnahme gibt. Für fast alle ist das Thema Essen emotionsbehaftet. Im Gegensatz dazu ist es für die meisten meiner männlichen Freunde einfach Energiezufuhr. So wie es ja auch eigentlich sein sollte. Durch Essen bekommt dein Körper Energie, um sich zu bewegen und zu denken. Aber diese rationale Sichtweise können viele, die sich mal in einer Negativ-Gedankenspirale befunden haben, gar nicht mehr sehen.  

Spannend finde ich auch den Fokus darauf, Männern zu gefallen, weil sich Frauen aufgrund stereotypischer Rollen in der Sphäre der Passivität befinden und in den Köpfen Vieler nur darauf warten, dass ein Mann mit stählerner Brust um die Ecke kommt, dem sie dann gefallen.  

Voll. Was mich vor allem daran stört, ist die Banalität des Themas. Das mit dem gesellschaftlichen Fokus auf den Körper hatten wir ja bereits besprochen: Klar, die äußere Hülle entscheidet zunächst über Zu- oder Abneigung gegenüber anderen Menschen, aber es gibt doch so viele Dinge, die man komplementieren kann, um Zuneigung auszurücken. Ein “Ich mag die Art wie du denkst”, “Ich mag deinen Scharfsinn” oder ein “Ich fühle mich wahnsinnig wohl in deiner Nähe”, funktioniert doch super und lenkt den Fokus auf den Charakter, nicht auf das Aussehen eines Menschen. Jeder Mensch weiß ja sowieso, wie er:sie selbst aussieht, oder? 

Wie können wir es schaffen, die Sensibilität für Trigger zu fördern? 

Ich denke es macht Sinn mit dem eigenen Umfeld über die individuellen Trigger zu sprechen. Um ein Beispiel zu geben: Wenn ich mir eine Cola Light bestellt habe und Freunde dann Witze gemacht haben, dass ich beim Trinken einer normalen Cola “sonst dick würde”, habe ich ihnen erklärt, dass es eine Zeit gab, in der ich solche Gedanken wirklich hatte. Das ist für “gesunde” Menschen gar nicht nachvollziehbar, deshalb braucht es eben dieses Gespräch. Eine Freundin hat das mal “Bullshit FM” genannt. Immer dann, wenn ich mir meine Gedanken nicht aussuchen konnte und die toxischen Stimmen lauter als mein gesundes Ich wurden, konnte ich mich darauf berufen, dass das jetzt wieder “Bullshit FM” ist, dem ich nicht zuhören muss.  

Auch dazu: ich wurde vor diesem einen besagten Mal nie so richtig von meinen Freunden konfrontiert, obwohl sie das, glaube ich, alle mitbekommen haben. Es war immer eher so ein darüber Witzeln: „Oh, du bist immer so gesund, und du machst immer so viel Sport, und neben dir fühle ich mich schlecht!“ Das ist extrem anstrengend und leider nicht hilfreich für die betroffene Person. 

Wie war es für dich, über die Essstörung zu reden? 

Heilsam. Meine Eltern haben wahnsinnig gut reagiert. Ich erinnere mich an einen Moment, in dem ich noch sehr tief in meinen Mustern steckte und mein Papa zu mir kam. Er war nicht anklagend, sondern wollte verstehen, warum das alles: Jeden Tag dünner werden, künstliche Nägel, viel Schminke. Damals hat er zu mir gesagt: “Du bist ein kluges, witziges, tolles Mädchen. Wenn du deinen Fokus so aufs Aussehen legst und nicht auf deine anderen Fähigkeiten – was bleibt dann, wenn du zum Beispiel einen Unfall hast und nicht mehr auf dein gewünschtes Aussehen zählen kannst?” Und die Art und Weise, wie liebevoll er mit mir gesprochen hat, hat mich sehr berührt und ein Umdenken ins Rollen gebracht. Er hat mir kein Ultimatum gestellt oder mir befohlen zu essen – das war in dem Vertrauensprozess sehr wichtig. So wurde er nicht zum Feind in dieser Zeit und hat mich zu einem späteren Zeitpunkt schneller die Hilfe meiner Eltern ergreifen lassen. 

Zuerst beängstigend, dann befreiend. Ich habe mich für die Bulimie so sehr geschämt, weil jeder weiß, dass man dabei unkontrolliert Essen in sich hineinstopft und es dann wieder auskotzt. Das habe ich selbst immer als sehr banal bewertet und mir gesagt, ich sei schwach, weil ich es nicht einfach lassen kann. Ich dachte, die anderen würden auch so schlecht über mich denken, wie ich selbst und mich für ein unkontrollierbares, widerliches Monster halten. Tatsächlich ist das aber nie so passiert. Ich habe nur Unterstützung, Interesse und teilweise auch einfach eine Form von Neutralität dazu erfahren. Es hat mich extrem aufgefangen, dass meine Familie und Freunde danach nicht anders mit mir umgegangen sind als vorher, weil es mir gezeigt hat, dass die Essstörung nicht alles an mir ist.  
An alle, die in der Familie oder unter Freunden auf eine essgestörte Person stoßen: Fragt nach, ob die Person darüber reden möchte, was sie denkt, was sie fühlt, was sie über ihre Essstörung weiß. Akzeptiert auch, wenn jemand nicht darüber reden möchte, vielleicht nimmt er:sie euer Angebot in einem anderen Moment doch noch an. Mit dem darüber reden lässt sich die Distanz, die entsteht, wenn eine essgestörte Person eine Art Parallelleben lebt, in dem sich alles nur ums Essen dreht, überwinden.  

Ja, ich schätze, Akzeptanz der Situation von dem Umfeld zu erfahren ist wichtig. Ein sehr wichtiger Schritt zu einem normalen Verhältnis zum Essen war für mich damals, dass ich zu meiner Mama gesagt habe: „Mama, ich erbreche manchmal vom Essen, aber es geht mir gut, also mein Verhältnis ist nicht gestört, ich bin gesund.“ Und sie hat mich angeschaut und meinte: „Naja offensichtlich ist nicht alles in Ordnung.“, während ich immer noch vorgegeben habe, alles im Griff zu haben. Das war für mich der Punkt, an dem ich bereit war, ein Stück meiner selbst aufgebauten Kontrolle, abzugeben. Denn der Trugschluss war, dass ich schon längst nicht mehr die Kontrolle hatte. Die Essstörung hatte die Kontrolle über mich. Wir haben dann eine Abmachung getroffen. Sie hat wahnsinnig toll reagiert und wir haben einfach ganz ohne Druck ausgemacht, dass ich ihr sage, wenn ich mich in nächster Zeit übergeben sollte. Ich meinte das auch wirklich ernst und Ehrlichkeit ist mir sehr wichtig. Die Scham meiner Mama gegenüber war dann so viel größer als die Scham mir gegenüber, dass es automatisch weniger wurde. Ich selbst hatte gar kein Problem damit, über der Toilette zu hängen, was ja bei Gott kein schönes Bild ist. Aber ich habe mir gegenüber damals so wenig Selbstliebe empfunden, dass mir das absolut egal war. Das Versprechen meiner Mutter gegenüber war mir aber total wichtig und mir graute es so sehr vor dem Moment, ihr das beichten zu müssen. 

Bei mir war ein anderer Moment das Abgeben der Kontrolle. Das Reinhauen, das Gefühl von Völlerei und die absolute Scham, die unmittelbar danach einsetzt. Dieser Moment muss dann schnell weg, schnell raus, ich will mich nur schnell von diesem Moment entfernen, in dem ich nicht ich selbst war. 

Bei mir gab es diese Phase, in der ich sehr diszipliniert und sehr gesund gegessen habe. Und dann eine, in der ich zu viel gegessen habe. Über diese zweite Phase danach zu sprechen…das habe ich bis jetzt fast mit niemandem getan. Das war für mich viel mehr schambehaftet als die erste Phase und ich denke, das ist auch gesellschaftlich bedingt.  

Welche Gefühle verbindest du mit deiner Essstörung?  

Einerseits ein Rauschgefühl, während eines Essanfalls. Ein absoluter Kontrollverlust. Andererseits Scham. Wenn ich nach dem Übergeben am Waschbecken stand und in den Spiegel geschaut habe, habe ich mich so sehr vor mir selbst geschämt. Wie konnte ich es bloß über mich bringen, erst so die Kontrolle zu verlieren und mir dann den Finger in den Hals zu stecken? Mir liefen immer die Tränen hinunter, weil mir sehr klar war, dass ich meinen Körper damit selbst kaputt machte und ich mich gleichzeitig sehr dafür verachtete, dass ich mein Gefühlschaos nicht auf andere Weise lösen konnte. Das Erbrechen war gleichzeitig ein Mechanismus, um mir die Kontrolle zurückzuholen. Es war wie eine Zeitreise. Nichts ist passiert, der Bauch war ja wieder flach, Kalorien auf null, weitermachen. Natürlich funktioniert das so nicht. Stattdessen wachsen Selbstzweifel, Unsicherheit und andere körperliche Beschwerden. Das dritte Gefühl war Unsicherheit. Ich habe mich wie eine tickende Zeitbombe gefühlt. Jeden Moment konnte ich die Kontrolle verlieren, jeden Moment konnte „es“ wieder passieren.

Was möchtest du zu deinem Heilungsprozess erzählen? 

Mittlerweile würde ich sagen, dass es mir wesentlich besser geht. Aber ich bin noch nicht geheilt. Denn ich habe immer noch oft diese Gedanken. Diese sehr toxischen Gedanken. Gleichzeitig ist mein Essverhalten eben auch jetzt viel ausbalancierter und gesünder. Ich muss mir die Tafel Schokolade nicht mehr verbieten und sie auch nicht ganz essen. 

Ich glaube es ist dabei wichtig anzuerkennen, dass nach dem essgestörten Verhalten nicht sofort die Heilung kommt, auch wenn man dann ganz schnell wieder gesund sein möchte. Es ist in Ordnung kleine Schritte zu machen. Gerade weil medial immer von “Ballance” die Rede ist. Dieses Wort kennen die wenigsten Menschen mit einer Essstörung – dort ist es immer nur schwarz oder weiß. 

Ich habe mich und die Essstörung als sehr banal bewertet und konnte die kleinen Schritte im Heilungsprozess deswegen lange nicht anerkennen. „Wieso stellst du dich so an?“ und „Warum kannst du nicht einfach normal sein?“. Damit habe ich mich selbst runtergemacht, obwohl alle anderen mir weißmachen wollten, wie stark ich bin. Mittlerweile mache ich mir da weniger Druck, das war auch Teil des Heilungsprozesses. Ich weiß, dass die Gedanken vielleicht nie ganz verschwinden werden, aber ich fühle mich so sicher, dass ich keine Angst mehr vor mir selbst habe. So kann ich gut damit leben. 

Was denkt und fühlt ihr heute, wenn ihr mit Essstörung konfrontiert werdet? 

Wenn ich das von anderen höre und auch über meine eigene Geschichte nachdenke, bin ich traurig und wütend. Im nächsten Moment bin ich aber total entschlossen, es unbedingt besser zu machen. Für mich selbst, für mein Umfeld, aber auch als Mitglied dieser Gesellschaft. Das muss insgesamt besser werden! Es kann nicht sein, dass wir jungen Mädchen immer noch weismachen, dass sie nur was wert sind, wenn sie einem bestimmten Schönheitsideal entsprechen. 

Puh, schwierig das runter zu brechen. Gerade wenn ich die Geschichten von jungen Mädchen und anderen Frauen höre , dann tut es mir primär leid, weil ich in Gesprächen wie heute immer wieder realisiere, wie viel Raum die Gedanken um Essen, Aussehen, Körper einnehmen. Stellt euch eine Welt vor, in der all diese Energie in andere Interessen, Hobbys etc. fließen würde. Kein 15-jähriges Mädchen kauft sich Push-Up BHs und hungert sich runter, weil sie da gerade spontan Lust draufhat. Ich denke, bei vielen Frauen bleibt so viel Potential auf der Strecke, weil der gesellschaftliche Fokus bei ihnen auf bestimmten Körperbildern liegt. Essstörungen sind nur das Symptom eines viel größeren gesellschaftlichen Problems. Und dadurch, dass der Diskurs über das Thema noch immer nicht die Norm ist, macht auch irgendwie fast jedes Mädchen diese Phase für sich allein durch und geht daran zum Teil kaputt. Das macht mich wahnsinnig traurig. 

Wenn ich daran denke, habe ich drei Gefühle, die sehr präsent sind. Das ist einmal Scham, weil ich die beschämendsten Momente meines Lebens in der Essstörung erlebt habe. Zweitens Verzweiflung, weil ich gleichzeitig selten in meinem Leben so viel Verzweiflung, so viel Angst vor der Zukunft verspürt habe, wie durch den Gedanken, dass ich dieses Verhalten nie wieder loswerde. Und mittlerweile ist das stärkste Gefühl Stolz. Darauf, dass ich Schritte geschafft habe, die ich vor anderthalb Jahren noch für unmöglich gehalten habe.  


Weitere Links zur Information, um euch Hilfe zu holen oder für Verwandte und Freunde von Betroffenen.

Beratung & Unterstützung 

Student Care | Zeppelin Universität (zu.de) 

Schritt für Schritt gemeinsam aus der Essstörung – ANAD Essstörungen 

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