Leben mit Geflüchteten: Besuch in einer WG

Mit Geflüchteten in einer WG zusammenleben? Wie gut funktioniert das? Und gibt es auch Probleme? Linnea und Louisa waren zum Essen eingeladen und haben nachgefragt.

Lukas und Rahif begrüßen uns, sie sind gerade dabei, die letzten Vorbereitungen fürs Essen zu treffen. Louisa und ich halten kurz inne und sehen uns ein bisschen um. Die Küche mit dem Essbereich ist der erste Raum, den man betritt und wirkt sofort einladend. LED-Ketten am Fenster, viele kleine Fotos an den Wänden und mit Schiefertafeln verkleidete Schrankwände. Alles ein bisschen improvisiert und bunt zusammengewürfelt, wie die Mitbewohner der WG eben auch. Und als ich genauer hinschaue, bemerke ich kleine Klebestreifen am Backofen und am Küchenregal, mit deutschen Beschriftungen. Mit deren Hilfe hat Rahif deutsche Vokabeln gelernt. „Mir fallen die gar nicht mehr auf, das muss man sich ab und zu wieder vor Augen führen, dass hier ja jemand ist, der Deutsch lernt“ gibt Lukas zu.

Kulturelle Unterschiede

Von der Küche führen ein paar Stufen in einen erniedrigten Wohnbereich mit Sofa und Fernseher; und auch die Zimmer der Bewohner sind vom Platz her luxuriös bemessen. Beneidenswert. Rahif erzählt, dass die Fläche im Fallenbrunnen wohl für zwei Zimmer gereicht hätte.

Was erst auf den zweiten Blick auffällt: Rahif fällt eigentlich gar nicht auf. Und er spricht schon erstaunlich gut Deutsch dafür, dass er erst seit einem Jahr im Land ist. Er versteht auch das meiste, wenn man langsam spricht. Und zur Not wechselt man eben ins Englische.

Jetzt schließt sich auch der Rest der WG den Abendessensvorbereitungen an, der Spanier „Nacho“, der mit einem Freund bei Airbus seine Masterarbeit schreibt und der PAIR-Masterstudent Tobias. Bei ihnen gibt es selbstgemachte Pizza. Wir kommen schnell ins Gespräch, Nacho und sein Freund scherzen, dass Rahif jetzt wohl berühmt werde und sich vor Groupies kaum retten könne. „Wirst du dann überhaupt noch mit uns reden?“ Wir lachen viel zusammen.

Zum Essen hat sich Rahif ein typisch syrisches Gericht ausgesucht, eine Art Eintopf aus gebratenem Brot, Kichererbsen, Hummus und gerösteten Cashews. Wir essen auf Rahifs Vorschlag hin direkt aus der Form, und es schmeckt ganz hervorragend! Dazu hat Lukas Salat gemacht, wozu Rahifs Kommentar ist: „Das ist ein Garten.“ Erst später klärt sich auf, dass Salate in Syrien viel feiner geschnitten werden (Zitat Lukas: „Protonensalat“).

Das sind solche Momente, in denen sich kulturelle Unterschiede in Sitten und Gewohnheiten bemerkbar machen, aber die gibt es ja nun in jeder ansatzweise internationalen WG. Wichtig ist der offene Umgang damit, Respekt und viel Kommunikation.

Das hat viel dazu beigetragen, dass Rahif sich so schnell in der WG wohlfühlte, schon nach einem Monat hatte er die erste Phase der Eingewöhnung überwunden.

Und wie zieht ein Geflüchteter in eine Studierenden-WG?

Moment, sage ich. Wie kam es nun eigentlich dazu, dass Rahif eingezogen ist? Er selbst beginnt, die Geschichte zu erzählen. Als erstes lernte er Lena, die zuvor in der WG gewohnt hatte, auf einer Tandem-Party von Welt_Raum im April letzten Jahres kennen. Nach einem halben Jahr in Friedrichshafen hatte er endlich seine Aufenthaltsgenehmigung bekommen und konnte sich nach einem Zimmer umschauen. Lena war im Programm der Initiative sein “Tandem”, sie verbrachten den Abend zusammen und verstanden sich so gut, dass Lena Rahif zu einem WG-Abend einlud. Ihr Mitbewohner Stefan nahm ihn im Auto mit und angekommen in der WG zauberte Rahif ein traditionelles syrisches Essen. So kam es dazu, dass Rahif noch einige gesellige Abende in der WG verbrachte, bis…

„Es war ein Sonntag, und Lena hatte mich zusammen mit Anderen ins Strandbad eingeladen“ beginnt Rahif. Sie saßen erst noch auf der Wiese und unterhielten sich, bis Stefan die Bombe platzen ließ und fragte, ob Rahif bei ihnen einziehen möchte. Er musste nicht lange überlegen. Über das Kennenlernen und die Förderung durch Welt_Raum war eine großartige Chance entstanden.

Nun kam der schwierige Teil. Im Nachhinein berichtet Lukas, Stefan habe wohl drei Wochen jeden Tag mindestens einmal mit dem Landratsamt telefoniert, um die Formalia für den Umzug aus dem Flüchtlingsheim in die Studenten-WG zu klären. Durch verschiedene Arbeitsstellen und Jobs hatte er zum Glück schon Erfahrung mit dem bürokratischen Sprech, der bei solchen Dingen unumgänglich ist. Man kann sich vorstellen, wie schwer so etwas für einen normalsterblichen Deutschmuttersprachler ist, geschweige denn für jemanden wie Rahif.

Trotz der anfänglichen Widrigkeiten war es am 1. September soweit dass Rahif einziehen durfte.  Er hatte zwar noch nie in einer WG gewohnt, kannte das Prinzip aber von Freunden in Homs, wo er studiert hat. Rahif erzählt, dass am Anfang alles komisch und ungewohnt gewesen sei, was man gut nachvollziehen kann. Einen witzigen Beginn hatte das Zusammenwohnen dann doch, als der frisch einquartierte Lukas Rahif für einen der airbnb-Gäste hielt, bis sich herausstellte, dass der ja auch hier wohnt.

Deutscher Smalltalk

Rahif erlebte auch kurz hintereinander zwei Abschiedspartys, wobei er ein bisschen mit dem ständigen Sich-Vorstellen-Müssen fremdelte, deutsche Small-Talk-Kultur eben. Aber es gefällt ihm bis heute, viele junge Leute in der WG zu haben. Ich kann mir gut vorstellen, dass häufige WG-Events am Anfang auch die Annäherung der Mitbewohner erleichtert hat. Und durch den Deutschkurs, den er fünf Mal die Woche besucht, haben sich seine Sprachkenntnisse enorm verbessert und er kann sich immer flüssiger auf Deutsch unterhalten. Was dabei ein wichtiger Punkt ist um das harmonische Miteinander zu ermöglichen: Jeder ist für sich selbst verantwortlich, es besteht keine Verpflichtung, Rahif besonders unter die Fittiche zu nehmen oder ihn zu beschäftigen. Jeder hat seinen Tagesrhythmus und seine Aufgaben. Zum Glück findet man ab und zu trotzdem die Zeit, Tischtennis zu spielen (wobei Lukas immer gewinnt) und oft genug finden beim Abendessenkochen alle zusammen.

In einer WG, die zu 75% aus Studenten besteht, musste Rahif lernen, auch ohne die Anderen auszukommen, etwa als alle an Weihnachten zu ihren Familien fuhren. Jetzt leistet ihm zumindest Nacho Gesellschaft, der wegen seiner Arbeit auch über die Feiertage dableibt.

Aber auch die Zeit außerhalb des Sprachkurses ist wichtig. Beispielsweise hatte er die Möglichkeit, für einen Monat im neuen Rewe am Stadtbahnhof zu jobben und kam dadurch in einen ersten Kontakt mit den Formalitäten und Abläufen auf dem deutschen Arbeitsmarkt. In Syrien ist es beispielweise nicht üblich, sich mit einem CV für eine Stelle zu bewerben; so etwas wird meist über familiäre Beziehungen arrangiert. Obwohl die Arbeit ihm nicht gut gefiel und er bereits nach einem Monat kündigte, weiß er jetzt welche Sozialabgaben er leisten muss und wie die entsprechenden Formulare auszufüllen sind.

Und wieso funktioniert das alles so gut?

Ich bekomme den Eindruck, dass das Konzept einer so stark gemischten WG hier wunderbar aufgeht und anscheinend auch nicht mehr als die üblichen WG-Probleme aufkommen. Was braucht es also, dass so etwas gut funktionieren kann? Oder kann man das überhaupt so pauschal sagen, geschweige denn planen?

Lukas hatte schon über ein Buddy-System an der Leuphana-Universität in Lüneburg Kontakt zu Flüchtlingen; was ihm aber als viel wertvollere Erfahrung erscheint, war das Zusammenwohnen mit einem amerikanischen Erasmusstudenten. Denn worauf es schließlich ankommt ist nicht, sich mit einer bestimmten fremden Kultur auseinanderzusetzen, sondern kulturellen Unterschieden im Allgemeinen im WG-Kontext Raum zu lassen und offen zu begegnen. Dass das hier hervorragend funktioniert, merkt man auf den ersten Blick. Alle sind entspannt und freundlich, niemand drängt sich dem anderen auf. Das käme auch vor, erzählt Lukas, dass Gäste Rahif ausfragen und neugierig sind. Als Mitbewohner konnte er sich aber viel Zeit nehmen, Rahif kennenzulernen und geduldig abzuwarten, dass dieser sich eingewöhnte.

Nun ist die WG aber kein Konzept, das sich durch Gleichförmigkeit und jahrelange Kontinuität auszeichnet. Mitbewohner kommen und gehen, weil sie nicht zum gleichen Semester anfangen zu studieren, sind lediglich für ein befristetes Praktikum da oder ziehen aus, weil die WG an sich nicht funktioniert. Nach einem Semester mussten die Zimmer von Lea und Stefan neu vermietet werden. Stellte der Umstand, mit einem Flüchtling zusammenzuwohnen, für die Bewerber einen problematischen Aspekt dar?

“Naja”, meint Lukas. “Wir hatten faktisch einen Monat Zeit, neue Bewohner für die Zimmer zu finden, und ehrlich gesagt keine Lust auf ein großes Prozedere oder WG-Casting. In der ersten Woche bekamen wir zehn Bewerbungen – komischerweise alle von Männern. Relativ schnell und unkompliziert hätten sie dann zweien zugesagt. Für die Bewerber spielte der Umstand, dass einer ihrer Mitbewohner Flüchtling ist, keine große Rolle.”

Auch ich muss gestehen, dass es mir während der Gespräche und auch während dem Schreiben immer schwieriger fiel, den Fokus darauf zu lenken, dass Rahif Geflüchteter ist und wie das den Alltag in der WG beeinflusst. Mir wird klar, dass das obsolet ist. Denn bei einem sozialen Gefüge wie einer Wohngemeinschaft, die vor allem von den individuellen Eigenschaften abhängt, macht ein Label wie Flüchtling keinen Unterschied. Es gibt ja auch kulturell homogenere WGs, in denen die Mitglieder überhaupt nicht miteinander klarkommen. Deswegen kann man meiner Einschätzung nach keine Thesen oder Prinzipien formulieren, die für eine WG mit Flüchtlingen gelten sollen. Es kommt – wie bei aller zwischenmenschlicher Interaktion – auf so basale Dinge wie Respekt, Einfühlungsvermögen und Offenheit an. Wenn man ansatzweise ähnliche Interessen und einen kompatiblen Habitus hat, dann spielt die Herkunft eigentlich keine Rolle mehr.