Kneipen Reportage

Dort, wo die Zeit still steht.

„Direkt noch eins!“ ruft Dirk in die Richtung der Holztheke. Er stöhnt auf und seine müden Augen richten sich wieder zurück auf das Smartphone in seiner rechten Hand. Mit der Linken fährt er sich durch den Ansatz seines Vokuhilas. Aus den Lautsprechern der Kneipe ertönen die Charts von Radio Seefunk, gerade läuft ein ruhigerer Michael Jackson Song. Eine leichte Rauchschwade vernebelt den Raum und lässt das Licht der rot-grünen Deckenstrahler flirren. Der Spielautomat in der hinteren Ecke des Raumes klimpert und leuchtet vor sich hin. Es riecht nach Putzmittel und abgestandener Asche. Das nächste Bier wird von einem jungen, drahtigen Kellner an Dirks Tisch gebracht. „Langsam haben wir uns eingespielt“, lacht er. Der Zeiger auf der Kuckucksuhr, die über dem Eingang der Kneipe hängt, zeigt elf Uhr – morgens. 

„Vormittags ist nie viel los, bloß die Stammkundschaft“, sagt Kellner Marco und nestelt mit seinen dünnen Fingern eine Zigarette aus einer L&M Schachtel. Der gelernte Autolackierer ist erst seit einem Jahr in Friedrichshafen. Gebürtig in Oberfranken, war er danach mal hier, mal dort. Diesmal ist er seiner Mutter nach Friedrichshafen hinterhergezogen. Seinen Job als Lackierer hat er an den Nagel gehangen. „Ich musste mal was Neues sehen und in der Gastro habe ich vorher noch nie gearbeitet.“ So hat es ihn in die Kneipe verschlagen, in der er nun seit etwa einem Monat Vormittags hinter der Theke steht und seinen Gästen Bier ausschenkt. Er zapft sich selbst noch eins. Sein Arm ist übersäht mit Tätowierungen. Ein Spinnennetz auf seinem Ellbogen, ein verschnörkelter Schriftzug auf seinem Unterarm. Er ist gern hier, hat so eine Art Heimat in Friedrichshafen und in der Kneipe gefunden. Am besten aber gefalle ihm der See und als er das sagt, leuchten seine blauen Augen. „Und Dirk, was gefällt dir hier dran so?“ ruft er zu Dirks Tisch rüber. „Ich habe keine Geschichten zu erzählen“ antwortet dieser bestimmt. 

Die Tür öffnet sich und ein Mann Anfang sechzig betritt den Raum. Die Kuckucksuhr schlägt 12:00 Uhr. Der Mann öffnet seine dunkelblaue Fleecejacke und legt seine Cappy auf den Tresen. „Ah Rainer, da bist du ja! Wir haben dich schon erwartet.“ Marco stellt ihm das große Weizen auf den Tresen, ohne nach einer Bestellung zu fragen. Rainer ist wie Dirk und die anderen, so gut wie jeden Tag im in der Kneipe. Man kennt sich hier beim Vornamen, man erwartet einander. Ursprünglich kommt Rainer aus einem kleinen Dorf der ehemaligen DDR, das zwischen Berlin und Cottbus liegt. Vor zwanzig Jahren ist er nach Friedrichshafen gezogen. „Auf Arbeitssuche“. Gelernt hat er Erdbau und Bergbau, aber „das gibt’s ja heute alles nicht mehr“. Auf der Suche nach einem Beruf hat er seine Berufung gefunden. Rainer baut, schleift und graviert Messer. Er hatte vor zwei Jahren ein Video darüber im Internet gesehen. Da dachte er sich, das könne er besser. Er verkauft die Messer nur an Kontakte und nur auf Anfrage, manchmal auch im Internet. Rainer hat einen Sohn, der im nahen Konstanz lebt, zu dem aber der Kontakt abgebrochen ist. „Konstanz“ ruft Dirk „das ist schrecklich.“ Dann blickt er wieder auf das Handy in seiner Hand. „Möchtest du noch eins?“ fragt Marco. „Direkt.“ Antwortet Dirk. 
Zwei weitere Männer Mitte fünfzig betreten die Kneipe. Ihre Haut ist aschgrau und sie wirken beide ein wenig eingefallen in ihrer Haltung. Der Rest der Kundschaft begrüßt sie mit einem aufrichtigen Nicken. Beim Hinsetzen auf den knarzenden Barhockern kriegen auch sie, ohne zu fragen ein Weizen vor sich gestellt. Sie haben wie der Rest ihren festen Platz hier in dieser vormittags Gesellschaft und fügen sich wie ein Puzzleteil in das Bild. Alle starren stumm auf ihr Bier vor sich. Marco geht hin und wieder in die Küche, um zu telefonieren. Die Kuckucksuhr schlägt 13:00 Uhr. 
„Weißt du, warum ich Konstanz schrecklich finde?“ ruft Dirk Rainer zu. „Studenten.“ Dirk möchte nun doch eine Geschichte erzählen. „Es gibt zu viele davon mittlerweile.“ Jetzt seien sie überall, selbst in Friedrichshafen. Neben ihm würden auch Studenten wohnen. Wenn er dann auf dem Balkon stehe und rauche, würden sie über allmögliches Zeug schnattern, von dem er nichts verstehe und was ihn auch nicht interessiere. Das Problem seien aber viel mehr noch die Großstädte, aus denen die Studenten kommen. Städte wie Köln oder Berlin seien ihm einfach zu offen. Auf die Frage, was er mit offen meine antwortet er nüchtern: „Das mit dem Gendern und den ganzen Schwulen. Ich bin zu alt für den Scheiß.“ Er müsse bald raus. Ganz bald dringend weg von hier. Ins Hinterland, mindestens zwanzig Kilometer von Friedrichshafen. Alle um ihn herum würden das wollen. Es wäre schlicht weg, nicht mehr zu ertragen. „Ich hab akzeptiert, dass ich das alles nicht mehr verstehe und ich wills auch nicht mehr. Sollen die jungen Leute alle machen und zusammenkommen, aber ich wills nicht mehr.“ Dirk ist Mitte sechzig, Rentner, geboren und aufgewachsen in Friedrichshafen. Nur einmal hat es ihn woanders hin verschlagen. Nach Konstanz. Zum Studieren. 

Die Kuckucksuhr schlägt 14:00 Uhr. Die Kneipe ist mittlerweile gut gefüllt mit älteren Herren, die an ihrem Bier nippen. Dirk lässt sich auch noch ein Neues bringen. In der Kneipe herrscht ein leises Stimmengewirr, hin und wieder ist ein raues Männerlachen dazwischen. Aus den Lautsprechern erklingt gerade Madonna. Ein Vormittag in der Kneipe neigt sich dem Ende, doch es bleibt Zeit bis in die späten Abendstunden um sitzen zu bleiben. Marco kann um 17 Uhr Feierabend machen. Dafür wird er morgen früh um 10 wieder bereit hinter der Holztheke stehen, um seinen Gästen Bier auszuschenken und wenn er Dirk nach einem neuen Bier fragt, wird dieser „direkt“ antworten. 

Die Original-Namen wurden für den Text geändert.