“How we dress does not mean yes“ – warum #freekesha uns alle betrifft

Wir loben uns selbst für Emanzipation und Gleichberechtigung, für Frauenrechte und sexuelle Freiheit. Dafür, dass jeder und jede bei uns eine Stimme hat. Und doch lässt unsere so entwickelte, so gerechte westliche Gesellschaft etwas zu, das uns an unserem System zweifeln lässt.

Ende des Jahres 2014 hat die US-Amerikanische Sängerin Kesha ihren Produzenten Lukasz Gottwald, der unter dem Künstlernamen Dr. Luke bekannt ist, wegen sexuellen Missbrauchs angeklagt. Wegen Sexuellen, emotionalen und psychischen Missbrauchs über die letzten zehn Jahre. Süße siebzehn war Kesha Rose Sebert, als sie aus ihrer Heimat Nashville nach Los Angeles gezogen ist, um ihre musikalischen Träume zu verwirklichen. Und tatsächlich nahm Dr. Luke sie bei seinem Label Kemosable Records, einem Tochterlabel von Sony, unter Vertrag. Zwei Alben sind seitdem erschienen, „Animal“ (2010) und „Warrior“ (2012).

Schon mit dem Erscheinen ihres zweiten Albums beklagte sich Kesha über ihren Produzenten und darüber, dass sie keine künstlerische Freiheit habe. In einem Interview mit der Musikzeitung „Rolling Stone“ beispielsweise erzählte sie, dass bisher durch ihre Musik nur ein bestimmtes Bild ihrer Selbst aufrecht erhalte. Sie wolle der Welt noch mehr Seiten ihrer Persönlichkeit zeigen, statt zu einer Parodie auf sich selbst zu werden. Aus Angst, wie sie heute sagt, erzählte Kesha damals noch nichts von den sexuellen Übergriffen und Drogenmissbrauch. Als sie dann aber 2014 wegen einer lebensbedrohlichen Esstörung in eine Klinik eingewiesen wurde, stellten sich die Missbräuche als Auslöser für ihre psychischen Leiden heraus. Erst die Therapie ermutigte sie dazu, noch im selben Jahr zu klagen: kurz nach ihrem achtzehnten Geburtstag habe der Produzent sie durch Drogen bewusstlos gemacht und im Anschluss vergewaltigt. In den darauf folgenden zehn Jahren habe er sie weiter physisch wie auch psychisch misshandelt. Das Problem: Kesha hat weder Fotos, noch Videos, SMS oder DNA-Spuren – kurz, keine Beweise.

Deshalb entschied am 19. Februar 2016 das Gericht in New York, dass Kesha den Vertrag mit Kemosable nicht kündigen darf. Gottwaldt ist zwar Chef dieses Labels, doch das Gericht argumentierte, sie könne mit einem anderen Produzenten arbeiten, solange dieser dem Label angehöre. Vertraglich betrifft das die nächsten sechs Alben der Sängerin. Anfang April forderte Sony Kesha auf, die Vorwürfe zurückzunehmen und sich zu entschuldigen. Als Reaktion darauf postete die Sängerin am 3. April ein Selfie, auf dem neben ihrem Gesicht, einem Teil ihrer Schulter und ihres Armes nur weiße Bettwäsche und Vorhänge zu sehen sind, auf Instagram. Ihr Blick ist melancholisch, doch ihre Lippen umspielt ein leichtes, hoffnungsvolles Lächeln. Entscheidend war die Unterschrift:

 

Als Anfang Februar bereits ein vorläufiges Urteil ausgesprochen wurde, haben viele Schauspielerinnen, Sängerinnen und Frauen weltweit sich mit dem Hashtag #FreeKesha in den sozialen Medien für Kesha stark gemacht. So zum Beispiel Lena Dunham, Demi Lovato, Lady Gaga oder Taylor Swift. Warum? Weil Kesha nicht die einzige Frau ist, die als Vergewaltigungsopfer nicht ernst genommen wird. Frauen, die vergewaltigt wurden, haben meist keine Beweise und keine starke Stimme. Im englischen wird dieses Phänomen als Rape Culture betitelt. Was im Deutschen zu „Vergewaltigungskultur“ übersetzt werden kann, beschreibt Gesellschaften, in denen sexuelle Gewalt weit verbreitet ist, aber von vielen Menschen toleriert oder nicht als solche ernst genommen wird.

Wie, wir dulden sexuelle Gewalt? Wir sind doch emanzipiert, hier gelten doch Menschenrechte! Anscheinend nicht. In Europa, in der „aufgeklärten westlichen Welt“, hat laut einer Umfrage durch die EU-Grundrechte-Agentur vom Jahr 2014 jede zweite Frau schon einmal körperliche oder sexuelle Gewalt am eigenen Leib erlebt. Jetzt mag man meinen, so etwas würde doch bestraft. Vergewaltigungen und Gewalt bringen einen doch hinter Gitter! Falsch gedacht. Zum einen finden die meisten Opfer gar nicht erst den Mut, über das zu sprechen, was ihnen widerfahren ist. Und diejenigen, die sich trauen, kämpfen meistens einen entmutigenden Kampf. Beides hat Kesha am eigenen Leib erfahren. Und das passiert auch in Deutschland.

Den Opfern wird misstraut. Sie wollen doch nur Aufmerksamkeit, den Kerl in die Pfanne hauen, haben „strategisches Interesse“ – ihnen wird sogar die Schuld für den Vorfall gegeben. Es sei aber auch ein komisches Hobby, nachts im Minirock durch Neukölln zu laufen, meinte beispielsweise eine Beamtin zu einer Berliner Studentin, Minuten nachdem diese von einem fremden Mann auf der Straße attackiert worden war. Die Studentin hatte Glück, konnte den Angreifer treten und so in ihre WG fliehen, wo sie sofort die Polizei rief – die sie offensichtlich nicht ernst nahm, ihr quasi Eigenverschulden vorwarf. In den USA sieht es genauso aus. Am 5. April 2016 machte der US-Amerikanische Vizepräsident Joe Biden darauf aufmerksam, dass auch das dortige Rechtssystem den Opfern tatsächlich Schuld unterstellt. So ist die Staatsgewalt berechtigt zu fragen, was das Opfer getragen habe – als könne das die Taten in irgendeiner Weise legitimieren. Wie soll sich da noch jemand trauen, für seine Rechte einzustehen? Die Opfer wissen, sie rechen damit, bloßgestellt zu werden, weil sie keine Beweise haben und am Ende Wort gegen Wort steht.

Im Jahr 2012 machte die Aktion #ichhabnichtangezeigt auf Twitter darauf aufmerksam, wie viele Frauen nach einem sexuellen Übergriff keine Anzeige erstattet haben und warum. In sechs Wochen teilten 1.105 Menschen auf der Webseite ihre Geschichten.

„Ich habe nicht angezeigt, weil er mein bester Freund war, ich alleine mit Ihm spazieren gegangen bin, ich eine kurze Hose angezogen habe, Ihm vertraut habe, mich vielleicht nicht feste genug gewehrt habe, nicht laut genug nein geschrien habe. Weil ich mich unglaublich beschmutzt und schuldig fühle.“ (12. Juni 2012 um 18:36)

Schuld und Scham sind mit 31,03% die meist genannten Gründe dafür, nicht anzuzeigen. Emotionale Belastung, die Opfer suchen den Fehler bei sich selbst. Von den genannten Tätern stammten 93% aus dem engeren Familienkreis. Auch diese Tatsache führt häufig dazu, dass viele Opfer nichts sagen, um ihr soziales Umfeld zu schützen und aufrecht zu erhalten. Denn so, wie die Prozesse in unserer Gesellschaft im Moment vonstattengehen, ist es mehr als nachvollziehbar, dass Opfer sich nicht vor Gericht trauen. Man mag ihnen vorwerfen, dass sie dadurch die Täter schützen – aber sie schützen in erster Linie sich selbst vor einem scheußlichem, erniedrigendem Prozess. Und wenn sogar eine starke, bekannte und beliebte Frau wie Kesha trotz der monumentalen Unterstützung mit ihren Vorwürfen gegen eine Wand rennt, woher soll dann jede andere, normale Frau noch den Mut nehmen, für ihre Rechte einzustehen?