Die Macht der Meinungsforscher*innen

http://www.deutschlandfunk.de/bundestagswahl-behinderte-aussen-vor.724.de.html?dram:article_id=394676

Wie Meinungsumfragen unsere Wahl beeinflussen

Man stelle sich vor, rein hypothetisch, es wäre Bundestagswahlkampf gewesen. So ein richtiger Wahlkampf eben, mit TV-Duellen, in welchen die Fragen nicht nur aus xenophob anmutenden Suggestionen bestehen, und es wichtigere als „Welches Emoji wären Sie?“-Fragen gibt. Ein Wahlkampf, in welchem man mitfiebert, streitet, demokratisch kämpft, und nicht einfach hofft, der Wahl-o-Mat könne einem von der Qual der Wahl befreien. Erwacht man dann jedoch aus den feuchten Träumen von Politikstudent*innen, so sieht man, dass der echte vergangene Bundestagswahlkampf sich selbst nach den Strunz-Shows nur so hinschleppte und durch die Objektifizierung des „heißen Poster Boys Lindner“ noch am ehesten eine Debatte über Sexualisierung von Männern entfacht hat. Denn der hinter uns liegende „Wahlkampf“ hätte bezüglich der eigentlichen Bundestagswahl nicht weniger spannender sein können: Nach dem #schulzzug schienen die Prognosen gesetzt und bereiteten durch mögliche Regierungen und einem prognostizierten Einzug der AfD in den Bundestag als Bauchschmerzen. Diese feierte sich zuletzt am Abend des 31. August in einem Facebook-Post wieder einmal selbst, als die Infratest dimap ihnen Zustimmungswerte von 11% berechnete, gelandet sind sie dann sogar bei 12,6% – ist das schon eine Self-Fulfilling Prophecy? Demoskopische Erhebungen mit Fehlerwerten wurden als echt eintretende Ergebnisse gewertet und gefeiert, und das, obwohl nicht zuletzt die US-amerikanische Präsidentschaftswahl als auch das Brexit-Referendum gezeigt haben, dass eine Prognose keine Zukunftsvorhersage ist und durchaus „falsch“ sein kann.

Doch waren die Ergebnisse wirklich „falsch“? Wenn ja, wozu dann das Ganze? Worin liegt der Mehrwert solcher Meinungsumfragen für die Gesellschaft? Besonders in diesem festgefahrenen Wahlkampf wurde eine genaue Auseinandersetzung mit solchen Umfragen wieder wichtig.

Zugegeben: Die Prognosen der Präsidentschaftswahl und des Brexit-Referendums schlossen die real eingetretenen Ergebnisse nicht aus, sie waren lediglich unwahrscheinlich und hatten mit dieser Vermutung über die Zukunft bereits einen Einfluss auf die Wähler*innen. Denn die Ergebnisse an sich besitzen keine explizite Botschaft, die sich aus den Zahlen ergeben könnte. Vielmehr sind es die Rezipient*innen, die diese durch ihr Lesen unterschiedlich interpretieren und ihnen so Bedeutung geben. Einige Wahlberechtigte werden beeinflusst durch Wunschdenken, einige Strategiewähler*innen achten auf Koalitionsmöglichkeiten. Andere wiederum beobachten einfach nur die Veränderung und sind trotz bereits gesetzter Stimme einfach genuin interessiert.

Aufgrund einer immer größer werdenden Nachfrage nach Meinungsumfragen, werden diese zusätzlich in einer immer höheren Taktung, die einer regelrechten (digitalisierten) Demoskopieökonomie mit verschiedenen Instituten Vorschub leisten. Soweit die Nachfrage, soweit der Markt. Doch ist das alles? Der Einflussnahme der Demoskopie auf unsere Demokratie und den aktuellen „Wahlkampf“ bleibt nämlich fraglich: Zum einen besteht das Problem, dass sich die Demoskopie sich selbst ad absurdum führen kann, da zum Erhebungszeitpunkt zwar vorliegende/ richtige Werte berechnet werden, diese sich jedoch durch die Veröffentlichung selbst verfälschen können. Denn nicht nur eine kleine Gruppe an Wähler*innen nutzen die gegebenen Informationen, um die eigene Stimme für z.B. mögliche Koalitionen strategisch zu optimieren, große Teile der Wähler*innenschaft lassen sich besonders kurz vor der Wahl durch die Umfragen beeinflussen: Da die Rezipient*innen nun wissen zu glauben, wie „alle anderen“ wählen werden, orientieren sie sich u.a. an der neu gewonnenen Information und wählen, eventuell auch um auf der vermeintlichen Siegesseite zu stehen, vielleicht anders als zum Erhebungszeitpunkt angegeben – oder glauben, dass ihr politischer Wunsch bereits gesichert ist und wählen einfach gar nicht. Und dies ist eine demokratische Katastrophe! Damit bleibt die Frage, inwiefern wir dies mit unserer Demokratie vereinbaren können, wenn unter dem Deckmantel von Transparenz und Neutralität Wahlberechtige beeinflussen und letztendlich Wahlen gemacht werden.

Aber: Kann man überhaupt unbeeinflusst wählen?

Die immer größer werdende Anzahl an Briefwähler*innen könnten sich durch frühzeitiges Wählen (zwar) dem Einfluss teilweise entzogen haben und sich dadurch möglicherweise „unbeeinflusster“ entschieden haben. Damit kämen sie dem Ideal einer unbeeinflussten Wahl nach dem eigenem Gewissen noch näher. Gleichzeitig jedoch konnten sie nicht mehr auf neu eintretende Ereignisse reagieren und bereuen vielleicht nach einem möglichen meinungsverändernden Skandal oder Ereignis ihre Wahl. Man kann sich daher fragen, ob Kretschmann ohne Fukushima je Ministerpräsident geworden wäre.

In einem Gedankenspiel könnte man als Lösung der angesprochenen Problemfelder der „Meinungsmache“ ein Berichterstattungsverbot von Prognosen insbesondere kurz vor der Wahl einführen. In Frankreich ist dies bereits gängige Praxis: Einen Tag vor der Präsidentschaftswahl darf nicht mehr über die Wahl berichtet werden. Wäre also ein Berichterstattungsverbot kurz vor der Wahl wie in Frankreich eine Lösung der angesprochenen Problemfelder? Auch hier gibt es keine eindeutige Antwort. Denn will man für ein Ideal den Wahlberechtigten die Prognosen vorenthalten, nimmt man diesen eine Information als Entscheidungsgrundlage und ist zutiefst intransparent, wodurch nicht zuletzt aus einer Informations- eine Machtasymmetrie wird. Unabhängig von einem Sendeverbot können, eben weil sich Wähler*innen durch Prognosen beeinflussen lassen, diese als Machtinstrumente dienen und von Parteien bei „passenden“ Ergebnissen veröffentlicht und bei unpassenden verschwiegen werden. Schlussendlich aber wird am Ende zwar nicht in französischen Medien, aber dafür in französischsprachigen Medien (z.B. aus Belgien) über die Wahl berichtet, weswegen ähnliche Phänomene in der deutschsprachigen Medienlandschaft (Schweiz, Österreich) zu erwarten wären.

Wir halten fest: Mit werden wir beeinflusst, ohne geht es aber irgendwie auch nicht. Solange wir als Gesellschaft also keine richtige Lösung für dieses Problem haben, müssen wir uns dessen zumindest bewusst sein. Und trotz der Umfragen vor allem eines: Wählen gehen!

Doch ein Lichtblick bleibt: Da unverfälschte Meinungsumfragen ein Merkmal einer Demokratie in Abgrenzung zu repressiven Systemen sind, in welchen es eben keine unabhängige Demoskopie gibt, wird bei kommenden Wahlen eine vorhergegangene, plurale und unabhängige Demoskopie, welche durch mehrere Forschungsinstitute mehrere Prognosen mit Fehlertoleranz hervorbringt, zumindest eine Antwort auf mögliche Wahlbetrugsvorwürfe sein.